russische Philosophie

russische Philosophie
rụssische Philosophie,
 
Sammelbezeichnung für das philosophische Denken in Russland. Von der ersten Berührung mit der in Byzanz von den Südslawen (byzantinische Kultur) und im Abendland gebildeten Kultur und Philosophie durch die Annahme des Christentums im Kiewer Reich 988 stand die russische Philosophie bis zum 18. Jahrhundert fast ausschließlich im Dienst der russisch-orthodoxen Theologie. Wichtige Eigenleistungen waren im 11.-13. Jahrhundert die Schriften der Metropoliten Ilarion und Kliment Smoljatitsch (✝ nach 1154) sowie des Bischofs Kyrill von Turow (* um 1130, ✝ nicht nach 1182; v. a. Ethik, philosophische Terminologie). Das 14.-16. Jahrhundert war durch geschichts- und staatsphilosophischen Auseinandersetzungen (besonders die Frage nach der Stellung der Kirche) bestimmt, in deren Verlauf sich die für die russische Staatsidee bis ins 20. Jahrhundert bestimmende politisch-absolutistische (Fjodor I. Karpow, ✝ vor 1545; Iwan S. Pereswetow, 16. Jahrhundert; Gegner v. a. A. M. Kurbskij) und die nach weltlichen Macht der Kirche strebende Richtung (Joseph von Wolokalamsk; Gegner: Nil Sorskij) durchsetzte.
 
Die im 18. Jahrhundert beginnende Loslösung der russischen Philosophie von der Religion (A. D. Cantemir, M. W. Lomonossow u. a.) unter dem Einfluss der Naturwissenschaften führte zur Aufklärung (A. N. Radischtschew), die an deutschen, französischen und englischen Vorbildern orientiert war; G. W. Leibniz und C. Wolff beherrschten die Schulmetaphysik. Eine Sonderstellung nahm im 18. Jahrhundert H. S. Skoworoda ein, der zum Teil auch als eigentlicher Begründer der russischen Philosophie angesehen wird; er übte Kritik am Materialismus und am englischen Empirismus und suchte in einer platonisch orientierten metaphysischen Lehre eine Versöhnung von Gott und Welt. Ihm ging es nicht um Beherrschung der Natur, sondern um Selbstbeherrschung des Menschen. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Auseinandersetzung zwischen »Slawophilen« (A. S. Chomjakow, I. W. Kirejewskij, I. S. und K. S. Aksakow, K. N. Leontjew) und »Westlern« (P. J. Tschaadajew; A. I. Herzen; Konstantin D. Kawelin, * 1818, ✝ 1885; W. G. Belinskij; B. N. Tschitscherin) bestimmend. Erstere brachten eine S. Kierkegaard vergleichbare religiöse Existenzphilosophie hervor, Letztere waren am deutschen Idealismus (v. a. G. W. F. Hegel) und am frühen Sozialismus orientiert; M. Bakunin wurde neben P. A. Kropotkin zum Hauptbegründer des Anarchismus. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen Materialismus (N. G. Tschernyschewskij, D. I. Pissarew, G. W. Plechanow) und Positivismus (P. L. Lawrow, N. K. Michajlowskij) sowie der Kantianismus (A. I. Wwedenskij, G. I. Tschelpanow, Iwan I. Lapschin, * 1870, ✝ 1952) an Bedeutung.
 
Wichtiger Vertreter einer auf Praxis hin orientierten Religionsphilosophie war Nikolaj F. Fjodorow (* 1828 oder 1829, ✝ 1903). In seinem existenzialistisch geprägten »Supramoralismus«, einem utopischen Entwurf, sprach er von der Überwindung des Todes, der Auferweckung der Verstorbenen (der Väter) und der totalen Umgestaltung der Welt als sittliche Aufgabe der gesamten Menschheit. In dieser philosophischen Tradition standen, von eigenen Denkmodellen ausgehend, F. M. Dostojewskij, L. N. Tolstoj und K. N. Leontjew. Von großer Wirksamkeit war W. S. Solowjow, der auf plotinisch-augustinischer Grundlage das erste geschlossene System der russischen Philosophie schuf und dessen Denken sich von einer Theosophie zur Phänomenologie und philosophische Anthropologie entwickelte. An ihn schlossen die Vertreter eines transzendentalen (S. N. und J. N. Trubezkoj, P. B. Struwe u. a.), personalistischen (A. A. Koslow; Lew M. Lopatin, * 1855, ✝ 1920; N. O. Losskij u. a.) und eines religionsphilosophischen Idealismus (S. N. Bulgakow; Lew P. Karasawin, * 1882, ✝ 1952; P. A. Florenskij) an. Die Emigranten L. I. Schestow, N. A. Berdjajew und S. L. Frank brachten in unmittelbarer Fortführung Solowjows (teils in Ablehnung des Marxismus) den russischen Existenzialismus hervor. Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Wissenschaft (Naturwissenschaft, Positivismus, Materialismus) und Philosophie (Erkenntnistheorie, Metaphysik) und um die Zuordnung von Wissen und Glauben bewegte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Denker wie Lopatin, Frank, K. D. Kawelin und A. A. Bogdanow.
 
Mit der kommunistischen Herrschaft wurde der dialektische Materialismus (Marxismus) in der UdSSR zur Staatsphilosophie erhoben. Anfang des 20. Jahrhunderts machte sich vorübergehend ein später von Lenin als Revisionismus abgelehnter Einfluss v. a. des Empiriokritizismus auf die marxistische Philosophie geltend (Empiriomonismus), z. B. bei Bogdanow und A. W. Lunatscharskij. Ihm standen der traditionelle Marxismus Plechanows und spezifischen Positionen Lenins (Marxismus-Leninismus) gegenüber. Eine relative Eigenständigkeit gegenüber der marxistisch-leninistischen Philosophie konnten Grenzgebiete wie Logik und Informationstheorie wahren. Schon früh hatten sich N. I. Bucharin (seit 1931 Herausgeber der wissenschaftspolitischen und -theoretischen Zeitschrift »Sorena«), Boris Hessen (russisch Gessen, * 1893, ✝ 1938) u. a. um ein marxistisches Wissenschaftsverständnis bemüht. Besonders Hessens Arbeit über die »sozialökonomischen Wurzeln« der Physik I. Newtons (1931) hat die westeuropäische und amerikanische Wissenschaftshistoriographie beeinflusst (R. K. Merton, J. Needham, T. S. Kuhn u. a.).
 
Neue Formen des russischen Denkens wurden erst durch die Perestroika in den 80er-Jahren freigesetzt. Die Philosophen knüpfen an die Blütezeit der russischen Philosophie 1860-1922 an und rekonstruieren ihren europäischen Traditionskontext. Neben der Wiederentdeckung Fjodorows und dem erneuten Interesse an Solowjow wird die Kontroverse »Kommunismus-Christentum« in einem philosophischen Diskurs geführt, der das verdrängte Erbe der großen Religionsphilosophen aufgreift. Aus der Strukturalismusdiskussion entwickelte sich ein Interesse für die Husserl-Rezeption in Russland (Gustaw Schpet, * 1878, ✝ 1940; Aleksis F. Lossew, * 1893, ✝ 1988). Die Öffnung des Denkens bedeutet auch eine Hinwendung zu ehemals tabuisierten westlichen Philosophen wie M. Heidegger oder M. Weber sowie eine Neuentdeckung der kantischen Erkenntniskritik seit den 80er-Jahren, besonders durch die Moskauer Universitätsphilosophie (I. Oisermann).
 
 
V. V. Zen'kovskij: A history of Russian philosophy, 2 Bde. (a. d. Russ., New York 31967);
 
Russian philosophy, hg. v. J. M. Edie u. a., 3 Bde. (Neuausg. Knoxville, Tenn., 1976);
 H. Dahm: Grundzüge russ. Denkens. Persönlichkeiten u. Zeugnisse des 19. u. 20. Jh. (1979);
 H. Dahm: Der gescheiterte Ausbruch. Entideologisierung u. ideolog. Gegenreformation in Osteuropa 1960-1980 (1982);
 A. Walicki: A history of Russian thought. From the enlightenment to marxism (a. d. Poln., Oxford 1980);
 
R. P., hg. v. W. Goerdt, 3 Bde. (1-21984-95);
 
Russ. Religionsphilosophie u. Gnosis, hg. v. P. Koslowski (1992);
 A. Haardt: Husserl in Rußland. Phänomenologie der Sprache u. Kunst bei Gustav Špet u. Aleksej Losev (1993);
 
Orte des Denkens. Neue r. P., hg. v. A. Ackermann u. a. (Wien 1995).

Universal-Lexikon. 2012.

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